So verändert digitales Lernen den Schulalltag der Zukunft - Interview mit Bildungsexperte Jörg Dräger
Die Coronakrise hat deutlich gezeigt, welche Vorteile digitales Lernen bieten kann und wie weit das deutsche Bildungssystem hier noch hinterherhinkt. Als Vorstand der Bertelsmann Stiftung beschäftigt sich Jörg Dräger schon seit vielen Jahren mit diesem Thema und sieht darin Chancen, die weit über das Homeschooling hinausgehen. Diese hat er unter anderem in seinem Buch “Die Digitale Bildungsrevolution” (2015) erläutert. Im Interview mit bidi spricht Jörg Dräger über seine Vision der digitalen Schule und warum es eine neue Art des Unterrichts braucht. Denn eins ist klar: Die digitale Bildungsrevolution hat längst begonnen und ist nicht mehr aufzuhalten!
Herr Dräger, wie schätzen Sie aktuell das Bildungssystem in Deutschland ein?
Zuerst einmal: Das deutsche Bildungssystem ist keine Katastrophe, es ist mittelgut. Deutschland hat unter vergleichbaren Ländern eine der geringsten Jugendarbeitslosigkeiten, da unser Bildungssystem einen recht guten Berufseinstieg ermöglicht. In den PISA-Vergleichstests liegt Deutschland im oberen Drittel. Aber: Das ist eben nur knapp über dem Mittelmaß. Da ist noch Luft nach oben. Bei der Chancengerechtigkeit liegt Deutschland im Vergleich in der Mitte, da ist noch mehr Luft nach oben. Die Potenziale, die wir haben, werden einfach noch nicht ausgeschöpft. Dafür muss ein Bildungssystem jedem das Beste, was er oder sie leisten kann, auch ermöglichen!
Aktuell hängt Bildung in Deutschland noch zu sehr von Wohnort und Herkunft ab. Es gibt zu wenig Chancengerechtigkeit. Das ist eines der Hauptthemen, an dem die Bertelsmann Stiftung arbeitet. Wir wollen einen gerechten Zugang zu Bildung für jeden in Deutschland, unabhängig vom Wohnort und von der sozialen Herkunft. Zudem müssen wir die sogenannten Zukunftskompetenzen – also Kreativität, Teamfähigkeit Resilienz und problembasiertes Arbeiten – bei der Schulbildung stärker in den Mittelpunkt rücken. Für große Reformvorhaben in der Bildung brauchen wir außerdem Standards, um verlässliche Qualität gewährleisten zu können. Zum Beispiel: Wann ist Inklusion erfolgreich? Wie sieht gelungene Digitalisierung genau aus? Hier sollten die 16 Bundesländer viel mehr den Mut zur Transparenz haben, damit sie voneinander lernen können.
Wie kann digitales Lernen dabei helfen?
Die wirkliche Chance der digitalen Bildung liegt in der individuellen Förderung - also Bildung für jeden und jede passend zu machen. Jedes Kind lernt anders, kann ganz verschiedene Dinge und hat unterschiedliche Voraussetzungen. Da ist es in einem Klassenzimmer mit bis zu 30 Schülerinnen und Schülern natürlich schwierig, jedem Einzelnen gerecht zu werden. Und die Bandbreite an Vorwissen und Leistung innerhalb der Klassen wird immer größer. Digitales Lernen kann Lehrerinnen und Lehrer unterstützen, individueller auf jedes Kind einzugehen. So kann im Matheunterricht zum Beispiel ein Kind noch die Bruchrechnung wiederholen und ein anderes schon in die Differenzialrechnung eingeführt werden. Dabei sind alle im selben Klassenzimmer, arbeiten aber an verschiedenen Aufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Auch die Art des Lernens ist verschieden. Ein Kind schaut vielleicht lieber Lernvideos, während ein anderes lieber Texte liest.
Digitales Lernen kann auch dabei helfen, Lernen und Spielen wieder zusammenzubringen.
Wenn Kinder klein sind, lernen sie durch das Spielen. Je länger man in die Schule geht, umso mehr wird Lernen und Spielen voneinander getrennt. Mit mancher Lernsoftware spielt man, lernt dabei und merkt gar nicht, dass man lernt. Es gibt Belohnungen, kleine Anreize und Feedback, woraufhin man sich korrigiert und der Schwierigkeitsgrad im nächsten Schritt anspruchsvoller wird.
Ganz grundsätzlich gilt: Da sich die Art, wie wir zukünftig leben und arbeiten, verändert, muss sich auch das Lernen ändern. Alle sprechen von New Work, aber kaum jemand redet darüber, wie das entsprechende „New Learning“ als Vorbereitung darauf aussieht. Durch die Art, wie Schüler lernen, müssen eben auch Kreativität, Widerstandsfähigkeit und Teamfähigkeit in der Bildung stärker verankert werden. Das könnte beispielsweise so aussehen, dass eine Gruppe von Schülern gemeinsam an einem größeren Problem arbeitet, miteinander diskutiert, untereinander Aufgaben verteilt, sich abspricht und kontrolliert. Das vermittelt nicht nur inhaltliches Wissen, sondern auch genau die Fähigkeiten, die essentiell für die gesellschaftliche Teilhabe in der Zukunft sind.
Welche Rolle werden Noten in der Zukunft beim digitalen Lernen spielen?
Mindestens wünsche ich mir, dass der Lernerfolg verlässlich begleitend beim Lernen erhoben wird und nicht in Prüfungen am Ende. Noten sollten auch weniger ein Maßstab zum Vergleich der Schüler untereinander sein, sondern für jeden Einzelnen eine Aussage über Lernfortschritte und das Erreichen eines Mindeststandards machen. Die Mindeststandards sollte jedes Kind erreichen. Aber niemand darf einen Deckel auf den “Topf des Lernens” gesetzt bekommen, sondern nach oben hin muss alles offen sein. Eine Sechstklässlerin, die schon den Stoff der siebten Klasse lernen kann, sollte sich nicht langweilen und gebremst werden.
Für diejenigen, die Schwierigkeiten haben, die Mindeststandards zu erreichen, können die Wege dahin flexibler und individueller werden. Wenn ein Kind zum Beispiel durch Zuhören nicht so gut lernt wie durch Lesen, sollte ihm entsprechendes Material angeboten werden. Vielleicht braucht es auch eine Lernbegleitung, die Anreize zur Motivation setzt oder bei privaten Problemen zur Seite steht.
Wie sieht also der Schulalltag der Zukunft aus?
Die Schule der Zukunft setzt auf die Vermittlung der Kompetenzen der Zukunft: Teamfähigkeit, Kreativität, Resilienz, problembasiertes Lernen und Empathie. Sie beinhaltet aber auch den selbstverständlichen Umgang mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, indem sie zum Beispiel Programmierkenntnisse als „Fremdsprache“ für das Leben in der digitalen Welt vermittelt. Um all diese Kompetenzen zu erreichen, kommt es auf eine gesunde Mischung aus Diskussionen im Klassenzimmer und individueller Wissensaufnahme, beispielsweise durch Lernsoftware, an.
Die Schule der Zukunft braucht auch einen vernünftigen Rahmen. Also Schulgebäude, die offene Lernräume bieten und mehr Gruppenarbeit ermöglichen. Natürlich braucht sie auch genügend Lehrkräfte, die für die neuen Lernmethoden geschult sind. In der Schule der Zukunft ist digital normal. Lehrerinnen und Lehrer sagen heutzutage ja nicht “Jetzt ist Buchunterricht, holt euer Buch raus”. Aber sie sagen “Jetzt ist Digital-Unterricht, holt euren Laptop raus”. Wir müssen die verschiedenen digitalen und analogen Möglichkeiten in einem ganz normalen Nebeneinander sehen. Für verschiedene Lernsituationen gibt es verschiedene Methoden, und der Mix macht am Ende eine gelungene Schulbildung aus.
Vor welchen Herausforderungen steht digitale Bildung aktuell?
Was wir in der Homeschooling-Phase gesehen haben, war wichtig und richtig. Das Klassenzimmer ins Kinderzimmer zu zoomen, schöpft aber bei weitem noch nicht das Potenzial digitaler Bildung für die individuelle Förderung aus. Wir müssen nun aufpassen, dass wir nicht bei einer Pseudo-Digitalisierung stehen bleiben. Unterricht wird nicht besser oder individueller dadurch, dass er digitalisiert wird und jeder Beteiligte ein digitales Endgerät besitzt. Es ist jetzt wichtig, die technische Infrastruktur einzurichten. Aber wenn Corona irgendwann überstanden ist, schaffen wir es darauf aufbauend hoffentlich, das ganze Potenzial digitaler Bildung zu heben. Im Endeffekt ist die digitale Revolution eine pädagogische Revolution. Wir schaffen jetzt die technischen Voraussetzungen, aber die Weiterbildung für die neue Pädagogik muss noch kommen und am Ende in jedem einzelnen Klassenzimmer landen.
Wir müssen außerdem aufpassen, dass durch Digitalisierung die soziale Schere nicht noch weiter auseinander geht und unsere Bemühungen, durch Bildung eine Chancengerechtigkeit herzustellen, zunichte gemacht werden. Zu viele ärmere Kinder haben weder ein eigenes Endgerät, noch ein ruhiges Zimmer zum Lernen zur Verfügung. Sie zeigen auch weniger Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien. All das schadete ihnen besonders während der Homeschooling Phase. Damit sich das nicht wiederholt, brauchen alle Kinder Zugang zu digitalen Endgeräten. Lehrerinnen und Lehrer müssen aber auch so geschult werden, dass sie Kindern helfen können, die für die Zukunft so wichtigen digitale Kompetenzen aufzubauen. Nur so erhalten sie eine faire Chance auf gesellschaftliche Teilhabe.
Was kann jeder Einzelne für die positive Entwicklung der digitalen Bildung tun?
Die Verantwortung für gute Bildung ist eine gemeinsame, man kann sie nicht an der Schultür abgeben. Eltern, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und die Politik müssen an einem Strang ziehen. Das zu verstehen, ist für mich eine Grundvoraussetzung für Veränderung. Eltern und Kindern empfehle ich, digitale Lernangebote und deren Wert zu entdecken. Sie werden in Zukunft ein wichtiger Teil unserer Bildung sein, und ich würde mir vom gesamten System etwas mehr Aufgeschlossenheit gegenüber dieser neuen Art des Lernens wünschen. Schulen können solche Angebote bereitstellen und Eltern können ihre Kinder dabei unterstützen, sie kennenzulernen. Die Lehrkräfte wiederum müssen passende Fortbildungen für den digitalen Unterricht erhalten und mit Lernsoftware arbeiten können, die ihnen einen echten Mehrwert für ihre Didaktik bringt.
Die zweite Grundvoraussetzung für Veränderung ist, dass Unterschiedlichkeit nicht mehr als ein Problem erkannt wird. Kinder sind unterschiedlich, sie lernen unterschiedlich, jeder hat Stärken und Schwächen und ein Kind sollte nicht in eine Box von Erwartungshaltungen gepresst werden. Es geht darum, diese Unterschiedlichkeiten zu verstehen und davon ausgehend dem einzelnen Kind gezielt zu helfen. Und genau dieses individualisierte Lernen können digitale Lern-Tools sehr gut unterstützen. Wenn dieser Kulturwandel gelingt, dann gelingt auch das Lernen für die Zukunft.
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