Schule für eine neue Generation - Jugendforscher Prof. Dr. Klaus Hurrelmann über die Bildung der Zukunft
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann ist Mitglied des Leitungsteams mehrerer Studien zur Entwicklung von Familien, Kindern und Jugendlichen an der Hertie School in Berlin. Im Interview mit bidi erklärt er, wie die jüngste Generation unserer Gesellschaft tickt, vor welchen Herausforderungen sie angesichts der Coronapandemie steht und wie Bildung gestaltet werden muss, um junge Menschen in Zukunft ausreichend zu fördern.
Herr Hurrelmann, was bedeutet Bildung für Sie?
Bildung bedeutet heutzutage nicht mehr, unglaublich viel zu wissen. Ein umfangreiches Wissen ist zwar schön, aber bei den heutigen Möglichkeiten gar nicht mehr zwingend notwendig. Der reine Wissenserwerb steht nicht mehr so im Vordergrund, heute ist entscheidend wie ich mit der unglaublichen Fülle an mir zur Verfügung stehenden Informationen umgehe und was ich daraus mache. Bildung ist also vielmehr das Ergebnis einer bestimmten Persönlichkeitsentwicklung. Ich bin gebildet, wenn ich es als Individuum geschafft habe mich selbst zu kennen, zu wissen wie mein Körper und meine Psyche gestaltet sind, wie ich die Welt mit meinen Möglichkeiten verstehen und mitgestalten kann.
Als Jugendforscher beschäftigen sie sich viel mit der jüngsten Generation unserer Gesellschaft. Was macht diese aus und wo unterscheidet sie sich vielleicht von der Generation ihrer Eltern?
Der Generationenbegriff ist ein Kunstgriff, natürlich gibt es eine so klar voneinander abgegrenzte Struktur in der Realität nicht. Aber was wir beobachten können und was diesen Kunstgriff rechtfertigt ist, dass Menschen die in einer bestimmten Zeit aufwachsen und von bestimmten Ereignissen oder Technologieumbrüchen geprägt werden, ähnliche Einstellungen und Verhaltensweisen aufzeigen. So kann man sagen, dass die Jahrtausendwende schon eine ziemliche soziale Weichenstellung gewesen ist.
Wer vor 2000 geboren wurde kam als junger Mensch in eine schwierige Zone hinein mit sehr unsicherer Berufskonstellation und einer kritischen politischen und wirtschaftlichen Lage. Das hat die Mehrheit dieser jungen Menschen vorsichtig, zurückhaltend, tastend und wenig politisch gemacht. Wer nach 2000 geboren wurde hatte eine andere Ausgangslage und so haben wir scheinbar plötzlich eine politische Generation, die es sich leisten kann, sich um die Welt zu kümmern. Denn sie steht noch nicht vor der der unmittelbaren Sorge, keine Ausbildung oder keinen Arbeitsplatz zu bekommen. Deswegen haben wir eine sehr selbstbewusste junge Generation, von der die Mehrheit eine gute Bildung erreichen möchte.
Wie kann eine solche Generation in der Schule optimal gefördert werden?
40-50% der heute unter zwanzigjährigen werden von ihren Eltern sehr gut unterstützt und sind tatsächlich bereits gut gebildet. Solche Schüler gab es schon immer, aber heute gibt es eben mehr davon. Diese neue Generation von Schülern braucht eine Schule ohne veraltete Klassenstrukturen mit still sitzenden Kindern und dozierenden Lehrern als Wissensvermittler. Sie brauchen einen lebendigen Arbeitsraum mit Lehrkräften, die sich als Begleiter, Trainer und Anreger verstehen. Der eigentliche Lernprozess sollte bei den Schülern als Person gelassen werden und von den Lehrern mit Tipps und Anregungen begleitet werden.
Wir haben heute eine sehr große Spannbreite an Leistungen unter den Schülern. Die zweite Hälfte der heute unter Zwanzigjährigen muss schon auch noch auf traditionelle Weise gezielt angeregt werden. Rund ein Fünftel dieser Gruppe schafft den Mindestschulabschluss gar nicht oder nur sehr knapp. Der Großteil davon kommt aus sozial schlechter gestellten Elternhäusern, die sie wenig unterstützen können. Diese Schüler werden auch später im Berufsleben Probleme haben und um sie sollten wir uns jetzt besonders Sorgen machen. Bei ihnen muss das, was bei der starken Gruppe von allein passiert unter starker Anleitung geschehen. Sie brauchen schon im Kindergarten und dann auch in der Schule, klare Strukturen, Hinweise und Anweisungen. Wenn sich in den Basisfähigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben schon Defizite entwickeln, lässt sich darauf der ganze weitere Persönliche Entwicklungsprozess nicht mehr aufbauen. Hier brauchen wir Lehrkräfte, die sehr intensive Beziehungen aufbauen und die den Schülern immer wieder Motivation geben.
Der Schulerfolg hängt in Deutschland also sehr stark vom Elternhaus ab, davon wie die Eltern selbst gebildet sind, wie sie wirtschaftlich und beruflich positioniert sind und wie sie darauf basierend ihre Kinder auf die Schule einstellen. Das ist in Deutschland intensiver als in vielen Ländern um uns herum, denn basierend auf historischen Ereignissen hat die Familie für unsere Gesellschaft ein hohes Gewicht. Die Schüler sind auf Gedeih und Verderb ihrer sozialen Herkunft ausgeliefert. Wer einmal schlecht startet und aus einem Elternhaus mit Bildungsnachteilen kommt, der hat auf seinem gesamten Bildungsweg die schlechteren Karten.
Welche Auswirkungen hat denn die Coronakrise auf so eine zweigeteilte Generation?
Die ohnehin schon große Kluft zwischen schwachen und starken Schülern könnte sich nochmal verschärfen. Die jungen Menschen, die selbstbewusst sind und schon gut mit der Schule zurecht kommen, die kommen auch mit den Auswirkungen einer Corona Pandemie zurecht. Sie haben eine innere Stärke, eine gute persönliche Bildung und werden ihren Weg machen. Schwierig wird es für das Fünftel, das schon heute im Bildungssystem und mit relativ guter konjunktureller Lage Probleme hat. Diese jungen Menschen müssten eine schwere Last tragen, weil ihnen die Fähigkeit zur Selbststeuerung fehlt, welche man bei einer solchen Umstellung des Bildungssystems braucht.
Falls die Schulen erneut schließen müssen sind wir besser vorbereitet als im Frühjahr. Die Schulen sind digital besser aufgestellt und es wird hoffentlich nicht noch einmal passieren, dass 20% der Schülerinnen und Schüler auf digitalem Weg nicht zu erreichen und praktisch vom pädagogischen Radar verschwunden sind. Aber was wir nicht in den Griff bekommen sind die Unterschiede zwischen Schülern, denen das Lernen mit dieser Kommunikation Spaß macht und jenen, die sich damit schwer tun, weil ihnen Geräte, Räumlichkeiten oder Unterstützung des Elternhauses fehlen. Das kann hoffentlich in den nächsten Jahren ausgeglichen werden, sodass zukünftig eine Kombination aus Präsenz- und Fernunterricht angeboten wird.
Wie genau sieht für Sie der Schulalltag in der Zukunft aus?
Man trifft sich im Klassenraum und teilt sich dann in verschiedene Gruppen auf. Dann bearbeiten die Schüler untereinander mit Anleitung und Begleitung durch die Lehrkräfte ein Thema, was sie sich am Nachmittag zuvor Zuhause angeeignet haben. Die reine Lehrstoffvermittlung findet also nicht mehr wie bisher im Klassenraum statt, sondern Zuhause. So sind in der Schule alle Möglichkeiten gegeben, um mit jedem Schüler gezielt zu schauen, was verstanden wurde und wo noch Lücken sind. Dabei kann die Schule auf digitalen Kanälen Zugang zu Lernmaterial bieten.
Woran scheitert diese Vision aktuell?
Sie läuft unserer Tradition zuwider. Diese Tradition Lehrkräfte auszubilden, die in 1-2 Fächern Experten und den Schülern überlegen sind, war bis vor 30 Jahren sicher auch effizient. Heutzutage können Schüler sich den Lernstoff mit Hilfe verschiedener digitaler Angebote aber auch selbst erschließen. Die Situation hat sich deutlich geändert also muss sich auch der Unterricht verändern, aber wir tun uns sehr schwer damit. In der Corona - Zeit wurde deutlich, dass die Scheu vor der Digitalisierung bei den meisten Lehrkräften groß ist und ihre Fortbildung hinterher hinkt.
Es reicht aber nicht, dass sich an den Schulen “nur” gut ausgebildete Lehrkräfte aufhalten. Auch die emotionale, psychische, gesundheitliche und körperliche Entwicklung der Kinder sollte mitgefördert werden. Kitas und Schulen müssen genau messen, wie viele Kinder mit ungünstigen Lernvoraussetzungen es gibt und welche Unterstützungsmöglichkeiten sie diesen bieten können, zB. durch Psychologen, Logopäden oder freiwilligen Helfern. Wir sind dahingehend in den letzten 20 Jahren schon besser geworden und auf einem guten Weg, aber es geht sehr langsam voran.
Haben Sie konkrete Tipps, wie jeder einzelne positiv zur Entwicklung des Bildungssystems beitragen kann?
Das allerwichtigste ist offen zu sein und sich den Neuerungen zu stellen. Bei der heutigen Schlüsselbedeutung von Eltern für den schulischen Erfolg ihrer Kinder brauchen wir einen intensiveren Dialog zwischen Elternhaus und Schule, mit dem Ziel gemeinsam die Wege zu finden, die für das jeweilige einzelne Kind von Bedeutung sind.
Ich bin dafür, dass Lehrkräfte mit ihrem hoch verantwortlichen Beruf unter Fortbildungspflicht stehen. Das heißt aber auch, dass sie dafür auch regelmäßig die entsprechenden Angebote bekommen sollten. Schüler sollten sich darin trainieren, das Internet zu erschließen, zum Lernen zu nutzen und die Lehrkräfte dazu drängen digital kompetent zu werden.
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